1746! So hatte mich der Zufall zu dem ältesten Grabmale des Friedhofes und zugleich
zu einem stillen Zeugen einer blutigen Schlacht geführt. Sinnend blieb ich stehen –
aus dem verwitterten Denkmal stieg leise die alte Zeit herauf; die Gegenwart versank,
– und die Vergangenheit hob ihre Schleier: Um das geöffnete Grab stehen neben der
leidtragenden Familie hohe und niedere Offiziere, Würdenträger des Staats und
Vertreter des Adels; dahinter im geschlossenen Viereck Grenadiere in hohen Bärmützen
und weißer Uniform mit geschultertem Gewehr. Dann kommen Dragoner in weißen Waffenröcken
mit darüber gekreuztem Bandelier, das den wuchtigen Säbel hält. Mit hohem Helm, bis weit
über die Knie reichenden Reiterstiefeln, hellen Lederhosen und mit langem, festgedrehtem
Zopf, – so stehen die strammen Männer wie aus Erz gegossen um den Sarg ihres toten
Obristen. Der Pfarrer, dessen langer Talar sich an der Halsöffnung zu einer hochgefältelten
Krause erweitert, hebt an zu reden von dem Manne, der hier die letzte Ruhstatt haben soll,
von der Reihe seiner Ahnen, von seiner kühnlichen Heldentat, die das Lorbeereis um seine
Stirne legte und nun den Totenkranz. – Dann blitzt das Ehrenfeuer der Grenadiere.
Die Kanonen, die außerhalb der Mauern auf dem Felde stehen, das den Kirchhof weithin umgibt,
donnern ihren Scheidegruß. Die Dragoner präsentieren; die Trommeln wirbeln - und der
reichgeschmückte Sarg sinkt langsam in die geheimsnisvolle Tiefe. Eine Hand voll Erde!
Alle, nach Stand und Würden, streuen sie hinab zum letzten Gruß. – Meine Gedanken sind Zeit
und Raum entrückt! Mein Träumen führt mich durch das Kirchhofstor. – – –
Von weitem ragen in scharfen Umrissen die Wälle und Schanzwerke der Neustadt hervor,
sonst aber nur überall Wald und Flur in stiller Ruhe. Ich stehe vor dem Festungstore.
Lautlos sinkt die gehobene Zugbrücke; ein dunkler Gang nimmt mich auf, dann bin ich in
der Stadt. Achtlos gehen die Bürger an mir vorüber. Welch merkwürdige Gestalten! Auf
ihren Köpfen große Dreimaster tragend, unter denen der dicke Zopf der Perücke bis zur
Hälfte des langen Knierocks herunterhängt, wandeln sie steif und bedächtigen Schrittes
ihren Weg dahin. – Die engen Gassen der Altstadt nehmen mich auf, – das Wilsdruffer Tor
hindurch, – dann bin ich im Freien. Ich wandre weiter und weiter – an stillen Dörfern
vorüber – da - mit einem Male ist alles verändert: eine schneebedeckte und eiserstarrte
Winterlandschaft liegt vor mir, inmitten ein Dorf in unheimlicher Ruhe.
Es ist der Frühmorgen des 15. Dezember 1745, der Tag der Schlacht bei Kesselsdorf.
Auf den eis- und schneebedeckten Höhen, die sich von Kesselsdorf nordostwärts, dem
Zschoner Grunde folgend, bis Briesnitz und Leutewitz erstrecken, heben sich lange
schwarze Linien ab. Es sind 35.000 Sachsen und verbündete Österreicher unter dem
Feldmarschall Rutowski. In ihrer fast unangreifbaren Stellung erwarten sie die Preußen,
die, Regiment an Regiment, unter ihrem erprobten "alten Dessauer" anmarschieren, um in
die Schlachtordnung einzurücken. Kesselsdorf ist der Hauptschlüssel der Sachsen.
Zahlreiche Kanonen starren von hier aus drohend zum Preußenheere hinunter. Es ist 2 Uhr
geworden! Der alte Dessauer hält vor der Mitte seiner Heerhaufen und schaut nach den
Höhen, die in grauser Ruhe vor ihm liegen. Da hebt er seine Hände zum düstern
Winterhimmel empor und betet laut: "Lieber Gott, steh´ mir bei, oder willst du diesmal
nicht, so hilf wenigstens auch den Feinden nicht, sondern siehe zu, wie es kommt!" Dann
zieht er seinen Degen. Die Trommeln rasseln, und unter den brausenden Klängen des
"Dessauer Marsches" marschieren mit geschultertem Gewehr seine Krieger vorwärts.
Jetzt wird es auch auf den Höhen lebendig. Die Erde bebt, und mit höllischem Gebrüll
speien die Kanonen und Musketen der Sachsen Tod und Verderben in die anstürmenden
Reihen. Wie eine Flutwelle an Felsen stößt und zurückprallt, so zerschellen die
Regimenter und weichen zurück; aber nicht alle, – Hunderte sinken tot oder verwundet in
den tiefen Schnee. Doch schon ordnen sich die Zersprengten, und abermals stürmen
Tausende, den Tod verachtend, vorwärts. Der Dessauer ist mitten drinnen; feindliche
Kugeln zerreißen ihm die Uniform, - er achtet´s nicht, – nur vorwärts! Vorwärts! Schon
klettern seine Tapferen die steilen Hänge empor, schon springen einige über die
Dorfmauer, – da prasseln die Kartätschen in die dichten Haufen und werfen Hunderte mit
einem Schusse zu Boden. Es ist unmöglich, die Höhe zu erzwingen – "Zurück! Zurück!" In
wilder Flucht stürzen die vom Schrecken des Todes übermannten Scharen zu Tal. – "Sieg!
Sieg!", schreien die Sachsen und eilen von den gedeckten Höhen den Fliehenden nach.
Aber des Dessauers Feldherrnauge wacht! Noch stehen seine Reiterregimenter in voller
Ordnung hinter dem Treffen; ein Wink von ihm; die Meldereiter rasen, kurze Befehle
ertönen, – dann rasseln und schnauben und wüten die Geschwader in den siegesgewissen
Feind. So plötzlich kommt dieser Sturmlauf, dass die durch die Verfolgung
auseinandergekommenen Sieger ganz bestürzt innehalten, um sich nun selbst ihrer Haut
zu wehren. Die Schlacht steht! Indessen sind die preußischen Grenadiere wieder
geschlossen; mit flatternden Fahnen kehren sie zurück. – Da gibt es kein Halten mehr
und keinen Widerstand. Die Sachsen müssen fliehen, und hinter ihnen stürmen die Preußen
die Höhe. Im Nu tauchen die preußischen Blechmützen an der Mauer, in den Gassen des
Dorfes und zwischen Häusern und Gärten auf: die Kanonen sind genommen! Hurra! Hurra! –
Nicht doch! Was rasselt und stampft und braust auf der Ebene daher? Das sind die
sächsischen Reiter! Hui, wie die Säbel klirren, – Nun wahre, Preuße, dein Leben! –
Hin und her wogt das Getümmel - wer wird Sieger sein? Neue Scharen der Preußen eilen
heran, die tapferen Reitzensteiner Dragoner aber wollen nicht zurück. Um ihren
Obristen geschart, an dessen Seite ein Reiter die Standarte führt, halten sie
unerschüttert stand. Da reißen Kartätschen ihre Züge auseinander; der Standartenträger
sinkt vom Pferde, – jetzt ist alles verloren! Obrist von Reitzenstein ergreift noch
das sinkende Feldzeichen, dann reißt er sein Ross zurück. Eine Kugel zerschmettert ihm
den Arm, ein Säbelhieb zerschneidet ihm die Wange, doch die Fahne lässt er nicht.
Blutüberströmt sprengt er davon, – muss er auch fliehen, – die Ehre seines Regiments
ist gerettet! Von der inzwischen eingetretenen Dunkelheit begünstigt, durch Sieger und
Besiegte hindurch lenkt er sein starkes und ausdauerndes Pferd in gestrecktem Lauf bis
nach Dresden zurück; es gilt, die Festung zu warnen. "Alles ist verloren! Ruft die
Besatzung auf die Wälle!", stammelt er noch der Torwache zu – dann sinkt er ohnmächtig
zu Boden. *) – –
Es war dunkel geworden. Noch einmal schaute ich das alte Denkmal an. "Tapferer Held!
Du hast deine Dragoner nicht wieder gesehen. Die Schatten des Todes bannten deine
Sinne, als nach wenig Tagen der siegreiche Feind durch die Tore der überwundenen
Festung ritt!"
*) In dieser blutigen Schlacht verloren die Preußen an Toten und Verwundeten 4.800
Mann, die Sachsen 3.800 Mann; ferner verloren die Sachsen gegen 7.000 Gefangene, 48
Geschütze, 6 Fahnen und eine Standarte.