Zu Jaurès´ Tod
London, 2. August. In Paris wurde heute eine vom
Ministerpräsidenten unterzeichnete Proklamation er-
lassen, worin es heißt: Ein verabscheuungswürdiges Verbrechen
ist geschehen. Jaurès ist meuchlings ermordet worden. Ich
und meine Amtsgenossen verneigen uns vor dem Andenken
dieses sozialistischen Führers, der in der gegenwärtigen schwie-
rigen Zeit für den Frieden alles getan hat, was
möglich war. In dieser schweren Krisis vertraut die Re-
gierung auf den Patriotismus der gesamten arbeitenden
Klasse.
Nach den hier aus Paris vorliegenden Nachrichten hat
Billain, der Mörder Jaurès´, zugegeben, daß er die Tat
aus politischen Motiven begangen habe. Er sagte auf der
Polizei beim Verhör: "Ich ging die Straße entlang und be-
merkte Jaurès, der mit einigen Freunden bei Tische saß.
Ich zog den Vorhang zurück und schoß ihm zweimal in den
Nacken, um ihn für seine Kampagne gegen die drei-
jährige Dienstzeit zu bestrafen. Verräter müssen
stets bestraft werden. Man mißt in Paris dem Vorgang
bei der augenblicklichen äußeren Lage große Bedeutung für
die Gestaltung der Stimmung im Lande bei.
Ein stumpfsinniger Fanatiker hat das Werk vollbracht.
Ein Patriot! Im Namen des Vaterlandes tötete dieses Halb-
tier den größten Franzosen. Ein Stück Metall zerschmetterte
das Gehirn, das die Wohnstätte des edelsten Geistes war.
Jaurès ist tot – der Weltkrieg ist da! Hat jemals die Welt-
geschichte eindringlichere Lehre erteilt? Der Krieg hat Jaurès
ermordet, oh, er wird noch viele töten – aber wie richtig
hat er sich dieses sein erstes Ziel gewählt. Um die Furien
zu entfesseln, mußte dieser größte Apostel des Friedens-
gedankens sterben ... In einer Welt, durch die der Brudermord
rast, war für ihn kein Platz mehr.
Jaurès kam, so lesen wir im Vorwärts, zur Sozial-
demokratie von der bürgerlichen Demokratie, er kam als
reifer Mann, als sein Name bereits vom Glanz seiner unver-
gleichlichen Rednergabe und vom mächtigen politischen Ein-
fluß seiner Persönlichkeit erstrahlte. Doch offenbarte sich ge-
rade an ihm wieder, daß der Sozialismus heutzutage die
einzige Zufluchtsstätte für alle wahrhaft großen Geister und
warmfühlenden Herzen ist. Es zeigte sich, daß die verfallende
bürgerliche Welt keine Heimat mehr sein kann für kühne
und schöpferische Persönlichkeiten, die erst in der heißen histo-
rischen Werkstatt der Zukunft, im Lager des ringenden Pro-
letariats ihre Geistesgaben entfalten und ihre glühende
Seele befriedigen können.
Jaurès kam zu uns als bürgerlicher Ideologe, der den
Sozialismus nur für die letzte logische Konsequenz des bür-
gerlichen Republikanismus hielt und die Unerschrockenheit
besaß, seine republikanischen Ideen zu Ende zu denken. Noch
im Jahre 1896 legte er in glänzenden Reden im französischen
Parlament dar, daß sich das sozialistische Gesellschaftsideal
direkt aus den republikanischen Staatseinrichtungen ergebe.
Mit dieser ideologischen Auffassung blieb er eine Zeitlang
noch innerlich ein Fremdling im Lager des französischen
Sozialismus, der bereits durch Guesde und Lafargue auf dem
historisch-materialistischen Boden der Marxschen Lehre auf-
gebaut war. Aber Jaurès war eine lebhafte, umfassende,
rastlos arbeitende Intelligenz. Indem er immer mehr mit der
Arbeiterbewegung verwuchs, sich ihr mit Leib und Seele er-
gab, wuchs er innerlich und schwang sich immer mehr zum
geborenen Führer des Proletariats auf. Die beiden Fähig-
keiten des politischen Führers, wie ihn die aufstrebende
Arbeiterklasse in ihrer historischen Mission braucht, besaß
Jaurès in höherem Maße als irgendein Lebender: die Fähig-
keit, Massen zu sammeln, zu vereinigen, zu organisieren, und
die Fähigkeit, zu handeln, die Massen zur Aktion zu bewegen.
Durch beide Fähigkeiten trat er im französischen Volksleben
zuerst in den Vordergrund, als er während der Dreyfusaffäre
die Losung der sozialistischen Einigung gegenüber dem alten
wirren Fraktionshader der französischen Arbeiterparteien auf
den Schild erhob und zugleich das ganze Gewicht der sozia-
listischen Arbeiterklasse gegen die klerikal-militaristische Re-
aktion mit entschlossener Hand in die Wagschale warf. Ihm
verdanken wir die sozialistische Einigung in Frankreich, für
die er nicht bloß durch seine mächtige Feder und Stimme
jahrelang unermüdlich Tag für Tag wirkte. Wir verdanken
sie auch der wunderbaren Disziplin und großmütigen Be-
scheidenheit, mit denen Jaurès sich den Beschlüssen des
Amsterdamer internationalen Kongresses und den Eini-
gungsbedingungen der Bebelschen Resolution im Sinne des
revolutionären Marxismus fügte, nachdem er im Kampfe
gegen sie unterlegen war.
An der Spitze der geeinigten französischen Arbeiterpartei,
neben den alten Führern Guesde und Baillant und mit ihnen
im Bunde machte Jaurès eine andere Idee zum Leitmotiv
seines Wirkens: die Verbrüderung des französischen und des
deutschen Volkes zum gemeinsamen Kampfe gegen die Barbarei
des Militarismus. Er war es, der den Mut und die Kraft
besaß, die Revancheidee des französischen Chauvinismus, die
30 Jahre lang wie ein Alp auf Frankreich lastete, offen den
Krieg zu erklären und sie in glänzendem Treffen aufs Haupt
zu schlagen. Er war es, der die Aussöhnung des französischen
und des deutschen Volkes zu gemeinsamer Macht seines Wortes uner-
müdlich predigte und das Blutgeheul der nationalistischen
Meute übertönte. Ihm danken wir es in erster Linie, daß
heute trotz aller Provokationen der säbelrasselnden Diplomatie
sich uns aus Frankreich Millionen Bruderhände entgegen-
strecken und gemeinsam mit uns dem Kriege den Krieg
erklären.
Jaurès kämpfte für die deutsch-französische Verbrüderung
noch in einem anderen Sinne. Es war das höchste Ziel seiner Wünsche
und seines Strebens, den geistigen Ausgleich zwischen den be-
sonderen Fähigkeiten der Arbeiterschaft seines Vaterlandes und
der unserigen herbeizuführen, den französischen Arbeitern den
Sinn für deutsche Organisation und Disziplin beizubringen,
die deutschen Arbeiter mit der flammenden Aktionsfähigkeit
des französischen Proletariats zu durchdringen. Er wurde nicht
müde, den Arbeitern seines Landes das Beispiel der deutschen
Sozialdemokratie und ihr systematisches Bauwerk der Organi-
sation zur Nachahmung zu empfehlen, und sein Wirken blieb
auch auf diesem Felde nicht fruchtlos: mit Bewunderung muß
man die tüchtigen und ernsten Ansätze, die schönen Fortschritte
unserer Bruderpartei jenseits der Vogesen auf dem Gebiete der
Organisation anerkennen.
Aber auch die deutschen Arbeiter haben die Hoffnung
Jaurès´ nicht getäuscht. Es war in der letzten Sitzung des
Internationalen Sozialistischen Bureaus in Brüssel, wo die
Vertreter aller Länder gemeinsam berieten, wie das klassen-
bewußte Proletariat dem drohenden Verbrechen des Weltkriegs
seinen entschiedenen Widerstand entgegensetzen soll. Da kam,
mitten in den wüsten Nachrichten über die diplomatischen
Ränke und die Kriegshetze der blutdürstigen "patriotischen"
Preßmeute, ein Telegramm aus Berlin, das wie ein heller
Lichtstrahl in die Sitzung fiel: Die Nachricht über die Friedens-
demonstrationen der Berliner sozialdemokratischen Arbeiter-
schaft am 28. Juli. Wie strahlte da stolz das Auge Jaurès´,
wie erhellten sich seine markigen Züge!
Abends sprach Jaurès in der grandiosen Demonstrations-
versammlung der Brüsseler Arbeiter im Zirkusgebäude. Tau-
sende und Abertausende Männer und Frauen drängten sich
unten und bis zur höchsten Galerie, ein wogendes Meer von
Köpfen, alle Augen gerichtet auf den Mann mit dem gewaltigen
Kopf auf den mächtigen Schultern, der mit seinem brausenden
Organ und seinen erhobenen geballten Fäusten die Mauern
zu erschüttern schien.
"Ich, der ich mein Lebtag in meinem Lande die Wahrheit
laut sagte – sprach Jaurès – ich habe jetzt das Recht, vor
Europa für mein Land Zeugnis abzulegen. Ich erkläre feier-
lich, daß das französische Volk in dieser Stunde der Kriegshetze
und der Provokation völlig und restlos, ohne Hintergedanken
und ohne Rückhalt, ehrlich und heiß den Frieden will und ihn
zu erhalten wünscht. Sollten morgen die Würfel fallen und
Rußland sich in den Krieg stürzen, dann erklären die fran-
zösischen Arbeiter: für uns existieren keine staatlichen Geheim-
verträge, wir kennen nur den einen offenen Vertrag – mit
der Menschheit und mit der Kultur! Aber diesmal sind wir
nicht allein. Wie vielmal haben uns, haben wir speziell, der
ich für die Aussöhnung mit Deutschland kämpfte, unsere
Chauvinisten entgegengehalten: ja, wo ist denn die Friedens-
liebe des deutschen Volkes? Sie fordern von uns Franzosen,
daß wir unserer Regierung in den Arm fallen, aber die deut-
schen Arbeiter rühren sich nicht, sie lassen ihre Kriegshetzer
gewähren, sie leisten ihnen keinen Widerstand. So rief man
mir unzählige Male zu und hielt uns bösen französischen
Sozialisten die braven deutschen Sozialdemokraten als Muster
vor. Nun, dieses falsche Gerede ist zum Schweigen gebracht,
dieser falsche Schein ist zerrissen. Die Berliner Arbeiter haben
gleich den Pariser Arbeitern auf der Straße ihre Stimme
gegen den Völkermord erhoben. Die deutsche Sozialdemo-
kratie hat der Welt gezeigt, daß sie nicht bloß einen mächtigen
Körper bildet, sondern daß in diesem Körper eine starke Seele
und eine kühne Tatkraft wohnt, die in schwerer Schicksalsstunde
mit Donnerwort sich vornehmlich machen kann. Und ich sage
Ihnen, noch nie hat die deutsche Sozialdemokratie, die sich
schon so viele Verdienste vor dem internationalen Proletariat
erworben hat, einen so großen Dienst der Sache der Mensch-
heit geleistet, als jetzt, indem sie gezeigt hat, daß sie ein
aktionsfähiger, mächtiger Faktor im Leben des Landes ist.
Ich danke den Berliner Arbeitern im Namen der französischen
Proletarier und ich schwöre, daß wir ihnen weiter in dem
entschlossenen Kampfe gegen den Attilaritt der wilden Kriegs-
rotten brüderlich zur Seite stehen werden – treu bis in den
Tod!" Das war die letzte Rede seines Lebens. Jaurès hielt
Wort. Er blieb der Sache der Völkerverbrüderung treu bis
in den Tod, er fiel als ihr erstes Opfer, mit seinem edlen
Blute besiegelte er den Bruderbund des französischen und des
deutschen Proletariats.
Die bürgerliche Presse, die über die Ermordung des
österreichischen Erzherzogpaares vor heißerer Wut und krei-
schender Entrüstung in Krämpfe fiel, registriert kühl und ge-
lassen die Ermordung eines Fürsten im Reiche des Geistes,
dessen Leben in der Kulturgeschichte mehr wog als eine Legion
von Erzherzogpaaren, und dessen Schatten im Pantheon der
Menschheit neben den Größten ragen wird, wenn man die
heiteren Spiele der Monarchie und die Schrecken der Kriege
wird längst vergessen haben.
Arbeiter Deutschlands, eure Tatkraft, euer erster An-
lauf zum Kampfe gegen die Schrecken des Weltkrieges waren
die letzte Huldigung, die ihr dem gefallenen Kämpfer dar-
gebracht hat. Senkt die Fahnen am Grabe Jean Jaurès –
nein, ergreift die Fahnen und eilt vorwärts, mit seinen
Worten auf den Lippen: Treu der Verbrüderung
mit dem französischen Volke, treu der Sache
des Friedens, treu dem internationalen So-
zialismus bis in den Tod!
(Vorwärts.)
aus: "Dresdner Volkszeitung" vom 3. August 1914