Clara
Zetkin
eröffnet als Alterspräsidentin den Reichstag
Berlin, am 30. August 1932
aus: "Sächsische Zeitung" vom 22. November 2016
Clara
Zetkin
Quelle: Deutsche Fotothek, Aufnahme-Nr.: df_hauptkatalog_0102262,
Datensatz-Nr.: obj 70227283
aus: "Clara Zetkin – eine hervorragende Pädagogin der deutschen Arbeiterbewegung",
Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin, 1960, Seite 27
Gedenktafel für Clara
Zetkin
in Birkenwerder, Summter Straße, 1957
Quelle: Deutsche Fotothek,
Aufnahme-Nr.: df_hauptkatalog_0180156, Datensatz-Nr.: obj 9008034
Meine Damen und Herren!
Der Reichstag tritt in einer Situation zusammen, in der die Krise des zusammenbrechenden
Kapitalismus die breitesten werktätigen Massen Deutschlands mit einem Hagel furchtbarster
Leiden überschüttet. Zu den Millionen Arbeitslosen, die mit den Bettelpfennigen der
sozialen Unterstützung oder auch ohne sie hungern, werden im Herbst und im Winter neue
Millionen stoßen. Verschärfter Hunger ist auch das Schicksal aller anderen sozial
Hilfsbedürftigen. Die noch Beschäftigten können bei ihrem niedrigen Verdienst die durch
die Rationalisierung aufs äußerste ausgepresste Muskel- und Nervenkraft nicht ersetzen,
geschweige denn kulturelle Bedürfnisse befriedigen. Der weitere Abbau des Tarifrechts
und des Schlichtungswesens wird die Entbehrungslöhne noch tiefer senken. Wachsende
Scharen von Handwerkern und Kleingewerbetreibenden, von Klein- und Mittelbauern versinken
verzweifelnd in Elendstiefen. Der Niedergang der Wirtschaft, das Zusammenschrumpfen der
Aufwendungen für Kulturzwecke vernichten die wirtschaftlichen Grundlagen für die Existenz
der geistig Schaffenden und verengen fortschreitend das Betätigungsfeld für ihre Kenntnisse
und Kräfte. Der im Osten entfesselte Weltbrand, der vom Westen her kräftig geschürt wird,
und dessen Flammenmeer auch die Sowjetunion und ihren sozialistischen Aufbau vertilgen
soll, würde auch Deutschland mit Schrecken und Greueln überhäufen, die das Mord- und
Vernichtungswerk des letzten Weltkrieges in den Schatten stellen.
Die politische Macht hat zur Stunde in Deutschland ein Präsidialkabinett an sich gerissen,
das unter Ausschaltung des Reichstags gebildet wurde und das der Handlanger des
vertrusteten Monopolkapitals und des Großagrariertums und dessen treibende Kraft die
Reichtwehrgeneralität ist.
Trotz der Allmacht des Präsidialkabinetts hat es gegenüber allen innen- und
außenpolitischen Aufgaben der Stunde gänzlich versagt. Seine Innenpolitik charakterisiert
sich genau wie die des vorausgegangenen durch die Notverordnungen, Notverordnungen im
ureigensten Sinne des Wortes; denn sie verordnen Not und steigern die schon vorhandene Not.
Gleichzeitig zertritt dieses Kabinett die Rechte der Massen, gegen die Not zu kämpfen.
Sozial Hilfsbedürftige und Hilfsberechtigte erblickt die Regierung nur in verschuldeten
Großagrariern, krachenden Industriellen, Bankgewaltigen, Reedern und gewissenlosen
Spekulanten und Schiebern. Ihre Steuer-, Zoll- und Handelspolitik nimmt breiten Schichten
des schaffenden Volks, um kleine Gruppen von Interessenten zu beschenken, und verschlimmert
die Krise durch weitere Einschränkung des Konsums, des Imports und Exports.
Ebenso schlägt ihre Außenpolitik den Interessen des schaffenden Volks ins Gesicht. Sie wird
geleitet von imperialistischen Gelüsten, bringt Deutschland in ziellosem dilettantischen
Schwanken zwischen plumper Anbiederung und Säbelrasseln in immer tiefere Abhängigkeit von
den Großmächten des Versailler Vertrags und schädigt die Beziehungen zur Sowjetunion, dem
Staat, der durch seine ehrliche Friedenspolitik und seinen wirtschaftlichen Aufstieg ein
Rückhalt für die deutsche werktätige Bevölkerung ist.
Schwerstens belastet ist das Schuldkonto des Präsidialkabinetts durch die Morde der letzten
Wochen, für die es die volle Verantwortung trägt durch die Aufhebung des Uniformverbots für
die nationalsozialistischen Sturmabteilungen und durch die offene Begönnerung der
faschistischen Bürgerkriegstruppen. Vergebens sucht es über seine politische und moralische
Schuld hinwegzutäuschen durch Auseinandersetzungen mit ihren Bundesgenossen über die
Verteilung der Macht im Staate; das vergossene Blut kittet es für ewig mit den
faschistischen Mördern zusammen.
Die Ohnmacht des Reichstags und die Allmacht des Präsidialkabinetts sind der Ausdruck des
Verfalls des bürgerlichen Liberalismus, der zwangsläufig den Zusammenbruch der
kapitalistischen Produktionsweise begleitet. Dieser Verfall wirkt sich auch voll aus in der
reformistischen Sozialdemokratie, die sich in Theorie und Praxis auf den morschen Boden der
bürgerlichen Gesellschaftsordnung stellt. Die Politik der Papen-Schleicher-Regierung ist
nichts anderes als die unverschleierte Fortsetzung der Politik der von den Sozialdemokraten
tolerierten Brüning-Regierung, wie dieser ihrerseits die Koalitionspolitik der
Sozialdemokratie als Schrittmachern vorausgegangen ist.
Die Politik des „kleineren Übels“ stärkte das Machtbewusstsein der reaktionären Gewalten und
sollte und soll noch das größte aller Übel erzeugen, die Massen an Passivität zu gewöhnen.
Diese sollen darauf verzichten, ihre volle Macht außerhalb des Parlaments einzusetzen.
Damit wird auch die Bedeutung des Parlaments für den Klassenkampf des Proletariats gemindert.
Wenn heute das Parlament innerhalb bestimmter Grenzen für den Kampf der Werktätigen
ausgenutzt werden kann, so nur dann, wenn es seine Stütze hat an kraftvollen Aktionen der
Massen außerhalb seiner Mauern.
Ehe der Reichstag Stellung nehmen kann zu Einzelaufgaben der Stunde, muss er seine zentrale
Pflicht erkannt und erfüllt haben: Sturz der Reichsregierung, die den Reichstag durch
Verfassungsbruch vollständig zu beseitigen versucht. Anklagen müsste der Reichstag auch
erheben gegen den Reichspräsidenten und die Reichsminister wegen Verfassungsbruchs und noch
weiterer geplanter Verfassungsbrüche vor dem Staatsgerichtshof zu Leipzig. Doch eine Anklage
vor dieser hohen Instanz hieße den Teufel bei seiner Großmutter zu verklagen.
Selbstverständlich kann nicht einfach durch Parlamentsbeschluss die Gewalt einer Regierung
gebrochen werden, die sich stützt auf die Reichswehr und alle anderen Machtmittel des
bürgerlichen Staates, auf den Terror der Faschisten, die Feigheit des bürgerlichen
Liberalismus und die Passivität großer Teile der Werktätigen. Der Sturz der Regierung durch
den Reichstag kann nur das Signal sein für den Aufmarsch und die Machtentfaltung der
breitesten Massen außerhalb des Parlaments, um in dem Kampf das ganze Gewicht der
wirtschaftlichen und sozialen Leistung der Schaffenden und auch die Wucht der großen Zahl
einzusetzen.
In diesem Kampf gilt es zunächst und vor allem, den Faschismus niederzuringen, der mit Blut
und Eisen alle klassenmäßigen Lebensäußerungen der Werktätigen vernichten soll, in der
klaren Erkenntnis unserer Feinde, dass die Stärke des Proletariats am allerwenigsten von
Parlamentssitzen abhängt, vielmehr verankert ist in seinen politischen, gewerkschaftlichen
und kulturellen Organisationen.
Belgien zeigt den Werktätigen, dass der Massenstreik sogar in Zeiten größter Wirtschaftskrise
seine Kraft bewährt, vorausgesetzt, dass hinter dem Gebrauch dieser Waffe die Entschlossenheit
und Opferfreudigkeit der Massen steht, vor keiner Weiterung des Kampfes zurückzuschrecken und
die Gewalt der Feinde mit Gewalt zurückzuschlagen. Jedoch die außerparlamentarische
Machtentfaltung des werktätigen Volkes darf sich nicht auf den Sturz einer verfassungswidrigen
Regierung beschränken; sie muss über dieses Augenblicksziel hinaus gerichtet sein auf den Sturz
des bürgerlichen Staates und seiner Grundlage, der kapitalistischen Wirtschaft.
Alle Versuche, auf dem Boden der kapitalistischen Wirtschaft die Krise zu mildern, geschweige
denn zu beheben, können das Unheil nur verschärfen. Staatliche Eingriffe versagten; denn der
bürgerliche Staat hat nicht die Wirtschaft, sondern umgekehrt die kapitalistische Wirtschaft
hat den Staat. Als Machtapparat der Besitzenden kann dieser sich nur zu deren Vorteil
einsetzen auf Kosten der produzierenden und konsumierenden breiten schaffenden Volksmassen.
Eine Planwirtschaft auf dem Boden des Kapitalismus ist ein Widerspruch in sich. Die Versuche
dazu werden immer wieder vereitelt durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln.
Planmäßigkeit des Wirtschaftens ist nur möglich bei der Aufhebung des Privateigentums an den
Produktionsmitteln. Der Weg zur Überwindung wirtschaftlicher Krisen und aller drohenden
imperialistischen Kriegsgefahren ist einzig und allein die proletarische Revolution, die das
Privateigentum an den Produktionsmitteln abschafft und damit die Planmäßigkeit des
Wirtschaftens verbürgt.
Der große weltgeschichtliche Beweis dafür ist die russische Revolution. Sie hat gezeigt,
dass den Schaffenden die Kraft eigen ist, alle ihre Feinde niederzuwerfen und zusammen mit
dem Kapitalismus im eigenen Lande auch die imperialistischen Raubgewalten zurückzuwerfen
und Sklavenverträge wie den Versailler Vertrag zu zerreißen.
Der Sowjetstaat erhärtet auch, dass die Werktätigen die Reife besitzen, eine neue
Wirtschaftsordnung aufzubauen, in der eine wirtschaftliche Höherentwicklung der Gesellschaft
ohne verwüstende Krisen erfolgen kann, weil eben die Ursache der anarchischen Produktionsweise
vernichtet ist, das Privateigentum an den großen Produktionsmitteln.
Der Kampf der werktätigen Massen gegen die zerfleischenden Nöte der Gegenwart ist zugleich
der Kampf für ihre volle Befreiung. Er ist ein Kampf gegen den versklavenden und
ausbeutenden Kapitalismus und für den erlösenden, den befreienden Sozialismus.
Diesem leuchtenden Ziel muss der Blick der Massen unverrückt zugewandt sein, nicht umnebelt
durch Illusionen über die befreiende Demokratie und nicht zurückgeschreckt durch die brutalen
Gewalten des Kapitalismus, der seine Rettung durch neues Weltvölkergemetzel und faschistische
Bürgerkriegsmorde erstrebt. Das Gebot der Stunde ist die Einheitsfront aller Werktätigen, um
den Faschismus zurückzuwerfen, um damit den Versklavten und Ausgebeuteten die Kraft und die
Macht ihrer Organisationen zu erhalten, ja sogar ihr physisches Leben. Vor dieser zwingenden
geschichtlichen Notwendigkeit müssen alle fesselnden und trennenden politischen,
gewerkschaftlichen, religiösen und weltanschaulichen Einstellungen zurücktreten.
Alle Bedrohten, alle Leidenden, alle Befreiungssehnsüchtigen in die Einheitsfront gegen den
Faschismus und seine Beauftragten in der Regierung! Die Selbstbehauptung der Werktätigen
gegen den Faschismus ist die nächste unerlässliche Voraussetzung für die Einheitsfront
im Kampfe gegen Krise, imperialistische Kriege und ihre Ursache, die kapitalistische
Produktionsweise. Die Auflehnung von Millionen werktätiger Männer und Frauen in Deutschland
gegen Hunger, Entrechtung, faschistischen Mord und imperialistische Kriege ist ein Ausdruck
der unzerstörbaren Schicksalsgemeinschaft der Schaffenden der ganzen Welt.
Diese internationale Schicksalsgemeinschaft muss ehern geschmiedete Kampfesgemeinschaft der
Werktätigen in allen Herrschaftsgebieten des Kapitalismus werden, eine Kampfesgemeinschaft,
die sie mit den vorausgestürmten befreiten Brüdern und Schwestern in der Sowjetunion verbindet.
Streiks und Aufstände in den verschiedensten Ländern sind lodernde Flammenzeichen, die den
Kämpfenden in Deutschland zeigen, dass sie nicht allein stehen. Überall beginnen die Enterbten
und Niedergetretenen zur Eroberung der Macht vorzustoßen. In der auch in Deutschland sich
formierenden Einheitsfront der Werktätigen dürfen die Millionen Frauen nicht fehlen, die noch
immer Ketten der Geschlechtssklaverei und dadurch härtester Klassensklaverei ausgeliefert sind.
In den vordersten Reihen muss die Jugend kämpfen, die freies Emporblühen und Ausreifen ihrer
Kräfte heischt, aber heute keine andere Aussicht hat als den Kadavergehorsam und die Ausbeutung
in den Kolonnen der Arbeitsdienstpflichtigen. In die Einheitsfront gehören auch alle geistig
Schaffenden, deren Können und Wollen, den Wohlstand und die Kultur der Gesellschaft zu mehren,
heute in der bürgerlichen Ordnung sich nicht mehr auszuwirken vermag.
In die kämpfende Einheitsfront alle, die als Lohn- und Gehaltsangehörige oder sonstwie
Tributpflichtige des Kapitals zugleich Erhalter und Opfer des Kapitalismus sind!
Ich eröffne den Reichstag in Erfüllung meiner Pflicht als Alterspräsidentin und in der Hoffnung,
trotz meiner jetzigen Invalidität das Glück zu erleben, als Alterspräsidentin den ersten
Rätekongress Sowjetdeutschlands zu eröffnen.