Nach 19 Uhr demonstrierten auf der damaligen Ernst-Thälmann-Straße (heute:
Wilsdruffer Straße) zahlreiche Menschen. In diese Demonstration geriet ich
rein. Und die bog dann ab Richtung Prager Straße. Inzwischen war es zwischen
19 und 20 Uhr. Das war eine ziemlich große Demonstration, die kurz vor dem
Hauptbahnhof durch die Polizei gestoppt wurde.
Die Züge, aus Prag kommend und durch Dresden führend, sind am 3. und 4.
Oktober gefahren – also mehrere Tage vorher. Die spielten für das
Demonstrationsgeschehen in Dresden keine Rolle mehr.
Die durch den Hauptbahnhof fahrenden Züge waren der Auslöser, nicht die
Ursache, für die Demonstrationen in Dresden. Es waren am 3. und 4. Oktober
noch Tausende Menschen Richtung Prag unterwegs, die noch nicht erfahren
hatten, dass die DDR die Grenzen zur CSSR geschlossen hatte, die also noch
hofften, nach Prag zu kommen, nun von der Grenze zurückfluteten, die sich
bereits wieder in der Stadt befanden, auf dem Hauptbahnhof versammelten und
dort auf dem Hauptbahnhof am 4. Oktober durch die Westmedien und auf dem
Bahnhof erfuhren, dass sie keine Chance haben würden, auf die Züge aufzuspringen.
Folglich versammelte sich in den Nachmittagstunden des 4. Oktober im Gebäude
des Dresdner Hauptbahnhofes eine große Anzahl von verzweifelten Menschen und
die haben dann in den Nachmittagsstunden des 4. Oktober den Hauptbahnhof
demoliert, auch nachweisbar Steine, Latten und andere Dinge auf die Polizei
geworfen. Die Nachmittagstunden des 4. Oktober waren in Dresden alles andere
als gewaltfrei. Durch die Menschen verursacht durch die Verzweiflung, jetzt
können wir nicht mehr in die Züge, jetzt ist die Freiheit für uns passé.
Bis in die Nachtstunden des 4. Oktober gab es im Hauptbahnhof und um den
Hauptbahnhof herum heftige Auseinandersetzungen und zahlreiche Verhaftungen.
Die Medien in der DDR und die westdeutschen Medien, die in Dresden ganz
schwach vertreten waren, berichteten natürlich am nächsten und am übernächsten
Tag nichts von dem, was im Hauptbahnhof geschehen war. Die DDR-Medien sowieso
nicht, die Westmedien meines Wissens auch nicht. Das führte logischerweise
dazu, dass viele Dresdner, die erfahren hatten, am 4. Oktober ist auf dem
Hauptbahnhof etwas ganz Schlimmes passiert, an den Folgetagen schauen wollten,
was passiert war. Ich auch. Und jetzt entwickelte sich um den Hauptbahnhof
eine große Menschenmenge von zunächst Schaulustigen, Neugierigen, aber
natürlich auch Unzufriedenen, die keinesfalls alle ausreisen, sondern in der
Mehrheit wahrscheinlich hierbleiben wollten, aber die sich erlebten als eine
große Menge. Das geschah am 5. Oktober, am 6. Oktober und auch noch einmal
am 7. Oktober. Das heißt, die Menschen versammelten sich an diesen Abenden
regelmäßig und immer wieder in großer Zahl auf der Prager Straße.
Die Polizei hatte den Befehl, die Menschenmenge zu zerstreuen und „die
Rädelsführer“ zu verhaften. Der Begriff Rädelsführer ist dabei ein ganz
entscheidender Terminus im Polizeirecht, damals gewesen und wahrscheinlich
auch heute noch.
Es wurde meines Wissens damals nicht nur Polizei eingesetzt, sondern auch
Offiziersschüler. Und es gab weitere zahlreiche Verhaftungen.
Die Situation am 7. Oktober war besonders angespannt. Das Agieren der
Sicherheitsorgane am 7. Oktober war besonders brutal, nachvollziehbar, denn
es war der 40. Jahrestag der DDR.
Am 8. Oktober, es war ein Sonntag, setzte sich das fort in den Nachmittagstunden
am Theaterplatz und in den Abendstunden in der Innenstadt und auf der Prager
Straße. Dort kam es dann zu diesem Dialogversuch. Und der gelang.
Ich habe die Initiative ergriffen, hatte meinen Freund Andreas Leuschner
in der Nähe, und bin auf die Polizei zugegangen. Wir sind auf den Detlef
Pappermann zugegangen, der war damals Polizist, allerdings in Zivil. Er hatte
eine leitende Funktion für die Einsatzwagen in der Prager Straße. Er ist heute
immer noch Polizist und sitzt im Landeskriminalamt.
Der Dialog zwischen ihm und mir gelang. Ich schlug ihm vor, den Oberbürgermeister
anzurufen: „Rufen Sie doch den Herrn Berghofer an. Er ist verantwortlich für das,
was in der Stadt passiert. Er soll herkommen.“ Das war natürlich von mir etwas
naiv, aber man muss manchmal auch etwas naiv sein, wenn man etwas erreichen will.
Pappermann sagte: „Ja gut, ich gehe jetzt telefonieren.“ Und ich habe dann
vorgeschlagen: „Ich könnte inzwischen eine Gruppe zusammenzustellen, damit nichts
passiert. Sie wollen keine Gewalt und wir wollen keine Gewalt.“
Daraufhin habe ich dann in der Prager Straße die Gruppe der 20 gegründet.
Und Berghofer entschied am Abend dann doch, dass er mit den Demonstranten reden
würde – am nächsten Morgen früh um 9 Uhr im Rathaus.
Das Interessante für Dresden ist, dass an diesem Abend des 8. Oktober gegen 20 Uhr
/ 20:30 Uhr verschiedene Personen an verschiedenen Stellen plötzlich anders
handelten als noch wenige Stunden zuvor: Die Demonstranten verhielten sich
gewaltfrei, einige – in diesem einen Fall war ich es – gingen auf die Polizei
zu und versuchten, mit ihnen zu reden. Die Polizisten ihrerseits, vor allem
in der Person Detlef Pappermann, waren bereit, mit den Demonstranten zu reden.
Pappermann selbst hatte mir später gesagt: „Es war erkennbar sinnlos, was wir
taten. Wir sollten die Demonstration verhindern und die Menschen zerstreuen.
Es wurden aber immer mehr.“ Mit anderen Worten: Er hatte die Schnauze voll.
Das kann man ruhig einmal so deutlich sagen. Er sah, das ist sinnlos, was wir
hier tun. Also, er war in dem Moment bereit, mit den Demonstranten zu reden.
Die Demonstranten waren bereit, viele Demonstranten waren bereit, eine Gruppe
zu bilden. Die Menschen haben sich auf meine Initiative hin zu einer Gruppe
versammelt, 23 Personen – die „Gruppe der 20“. Die Menschen waren plötzlich
in einer Weise mutig und entschieden, politisch zu handeln, wie lange vorher
nicht. Berghofer war an diesem Abend so weit zu sagen: „Ich rede mit den
Demonstranten.“ Das war ganz eindeutig gegen die Parteilinie. Als er an dem
Abend im Rathaus so entschied, befanden sich gerade der Superintendent Christof
Ziemer und der Landesbischof Johannes Hempel bei ihm im Zimmer. Die waren zu
ihm gegangen und hatten auf ihn eingeredet, dass er so etwas tut, dass er mit
den Demonstranten reden müsste. Die kamen nicht von der Straße. Es war ein
Zusammentreffen verschiedener Personen an verschiedenen Punkten, Menschen
handelten unabhängig voneinander, nicht wissend voneinander, nahezu zeitgleich
und entschieden: „Wir machen das jetzt anders!“ Und man darf auch Hans Modrow
nicht vergessen, der an diesem Abend zwar nicht erreichbar war, er saß aller
Wahrscheinlichkeit in der Semperoper und schaute gerade „Fidelio“ – vielleicht
hörte er gerade den Gefangenenchor. Aber eines muss man konstatieren, Modrow
hatte schon in den Vortagen signalisiert, dass diese Polizeieinsätze nichts
bringen. Die Entscheidung Berghofers an diesem Abend, die wirklich eine
Entscheidung Berghofers war, fiel also in dem Wissen darum, dass Modrow das
bestimmt nicht kritisieren würde. Herrn Berghofer kommt das historische
Verdienst zu, am 8. Oktober eine ganz wichtige Entscheidung getroffen zu haben,
nämlich in den Dialog mit den Demonstranten einzutreten. Ohne ihn wäre das so
nicht gelungen. Ohne ihn wäre die Friedlichkeit dieses Vorgangs nicht zustande
gekommen. Andererseits war er im gesamten Geschehen dieser Tage in Dresden nur
eine Person, eine ganz wichtige, aber nur eine. Er sollte seine Rolle nicht
überschätzen. Ohne den Druck der Straße, der aufrecht erhalten wurde durch
die vielen Demonstranten, die Tatsache, dass die Menschen jeden Abend wiederkamen,
ohne die Montagsdemonstrationen in Leipzig hätten die Politiker gar nichts
verändert. Wenn man also einen maßgeblichen Akteur dieser Tage benennen will,
dann muss man sagen, das war das Volk. Das mindert nicht die Bedeutung des Herrn
Berghofer, das ordnet sie nur in das Gesamtkunstwerk ein. Schlussendlich kann
man sagen, dass sich in ungefähr eineinhalb Stunden die politische Situation
in Dresden tiefgreifend änderte, weil verschiedene Akteure an verschiedenen
Stellen unabhängig voneinander und nicht voneinander wissend ihr Verhalten
plötzlich änderten. Und das traf glücklicherweise zur gleichen Zeit zusammen.
Sodass am nächsten Tag früh um 9 Uhr die Gespräche im Rathaus beginnen konnten,
also am 9. Oktober früh um 9 Uhr, als in Leipzig noch lange nicht klar war, wie
der Abend ausgehen würde.
Die „Gruppe der 20“, die dann sofort aktiv wurde, schickte noch am Abend des 8.
Oktober zwei Leute mit dem Trabi nach Leipzig, die in der Nikolaikirche am 9.
Oktober berichtet haben, was am Vortag in Dresden passiert ist.
Die Dresdner Geschichte versteht man nur, wenn man diese Genese vom 3. und 4.
Oktober, die Ereignisse im und um den Hauptbahnhof, dann die Demonstrationen
in der Nähe des Hauptbahnhofs auf der Prager Straße und dann den Dialogversuch
am 8. Oktober in einem Zusammenhang sieht. Wenn man diese Ereignisse einzeln
herausgreift, bleibt es ziemlich unlogisch, was da im Einzelnen passiert ist.
Es gab eine Phase, in der der Herr Pappermann in meinen Augen für Dialog mit
den Demonstranten bereit war. Er hat dann tatsächlich telefoniert, nicht
direkt mit Herrn Berghofer, sondern mit seinem Vorgesetzten. Und der wiederum
hat dann mit Oberbürgermeister Berghofer telefoniert. Der Polizeifunk dieser
halben Stunde ist vorhanden. Das Tondokument liegt vor und geht
interessanterweise zurück auf einen Mitschnitt. Ein junger Mann aus
Dresden-Coschütz hatte an dem Abend in seinem DDR-Fernsehapparat den Polizeifunk
reingekriegt und hat den mitgeschnitten. Und dieser Mitschnitt belegt den
Polizeifunk zwischen Herrn Pappermann und seinem Vorgesetzten, wahrscheinlich
Herrn Nyffenegger, wie sie darüber kommunizieren, was man tun müsse. Nyffenegger
fragt: „Was rufen die?“ und Pappermann antwortet: „Keine Gewalt!“ Darauf
Nyffenegger: „Na, dann noch nicht knüppeln!“ Das ist im Originalton des
Polizeifunks zu hören.
In dieser Phase, in der ich vermuten musste, dass Herr Pappermann telefoniert,
fand die Gründung der „Gruppe der 20“ statt. Ich hatte mich auf den Brunnenrand
gestellt und sagte: „Wir brauchen eine Gruppe. Wenn Berghofer mit uns redet –
das war zwar noch nicht klar – aber wenn er mit uns redet, dann brauchen wir
eine Gruppe. Zehn Leute mögen vorkommen.“ Und es traten bestimmt 50 vor. Das
Ganze geschah innerhalb weniger Sekunden. Mein Freund Andreas und ich wählten
aus den etwa 50 Leuten 23 aus. Ich sagte: „Wir brauchen ein paar junge Leute,
ein paar alte Leute. Frag mal nach den Berufen! Wir brauchen ein paar Arbeiter,
ein paar Studenten, ein paar Akademiker. Das muss eine bunte, repräsentative
Gruppe für die Stadt Dresden sein. Also, wenn der Berghofer die Gruppe sieht,
muss der erkennen, das sind keine Chaoten, sondern das sind Bürger dieser Stadt
– und zwar in ihrer repräsentativen Vielfalt.“ Dann hatten wir die Gruppe zusammen.
Dann bin ich ein zweites Mal auf den Rand des Springbrunnens gestiegen und habe
die Forderungen der Bürger abgefragt. Die Forderungen wurden uns von der Menge
zugerufen:
- Reisefreiheit,
- Pressefreiheit,
- Demonstrationsfreiheit,
- Wahlfreiheit,
- Zulassung des „Neuen Forums“,
- Einführung eines zivilen Ersatzdienstes in der Gesellschaft,
- Freilassung der politischen Gefangenen und
- friedlicher Dialog in der Gesellschaft.
Genau diese acht Forderungen wurden uns an diesem Abend von den Menschen zugerufen.
Man kann sagen: dies ist ein kleiner Katalog bürgerlicher Freiheitsrechte. Da ist
keineswegs nur „Wir wollen nach dem Westen!“ – Nein. Es war schon eine klare
politische Ansage. Reisefreiheit stand natürlich an erster Stelle. Ohne Zweifel,
denn die nicht vorhandene Reisefreiheit war die größte Demütigung der Menschen
in der DDR Aber es war mehr als Reisefreiheit. Es war ein kleines politisches
Programm, was auf der Straße uns abends von der Menschenmenge zugerufen wurde.
Also die Meinung, dass die Dresdner im Tal der Ahnungslosen nicht gewusst hätten,
was los ist, das ist völliger Unsinn.
Es gibt in Dresden etwa 170 Gedächtnisprotokolle von den Ereignissen vom 4. bis 8.
Oktober 1989 in der Stadt und in den Gefängnissen. Von denen sind etwa 35
publiziert im Buch „Vergesst den Oktober 89 nicht“ von Günter Hofmann dokumentiert.
Dem Günter Hofmann ist es gelungen, einen Teil der Gedächtnisprotokolle herauszugeben.
Alle Protokolle konnten aus rechtlichen Gründen nicht herausgegeben werden. Aber die
vorliegenden Berichte geben ein ziemlich klares Bild von dem, was damals geschah,
also willkürliche Verhaftungen, Misshandlungen in den Gefängnissen, willkürliche
Entlassungen, Beispiele, dass Menschen völlig zufällig aufgegriffen und verhaftet
worden sind.
Es gibt noch ein weiteres Buch, von Dr. Michael Richter und Erich Sobeslavsky
„Die Gruppe der 20“. Das ist die beste Dokumentensammlung zu diesem Thema, ich
kenne keine bessere.