Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!

Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten. Alle Europäer, Russland eingeschlossen, tragen gemeinsam die Verantwortung für Frieden und Sicherheit. Nur wer dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, vermeidet Irrwege.

Der Ukraine-Konflikt zeigt: Die Sucht nach Macht und Vorherrschaft ist nicht überwunden. 1990, am Ende des Kalten Krieges, durften wir alle darauf hoffen. Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben schläfrig und unvorsichtig gemacht. In Ost und West gleichermaßen. Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.

In diesem Moment großer Gefahr für den Kontinent trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michael Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden. Die deutsche Einheit friedlich zu ermöglichen, war eine große, von Vernunft geprägte Geste der Siegermächte. Eine Entscheidung von historischer Dimension. Aus der überwundenen Teilung sollte eine tragfähige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok erwachsen, wie sie von allen 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedsstaaten im November 1990 in der "Pariser Charta für ein neues Europa" vereinbart worden war. Auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Prinzipien und erster konkreter Maßnahmen sollte ein "Gemeinsames Europäisches Haus" errichtet werden, in dem alle beteiligten Staaten gleiche Sicherheit erfahren sollten. Dieses Ziel der Nachkriegspolitik ist bis heute nicht eingelöst. Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben.

Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern. Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer.

Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen.

Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, als vom Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein.

Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.

Am 3. Oktober 1990, am Tag der Deutschen Einheit, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker: "Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. ... Nun können sie ihre Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, dass daraus erstmals eine gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann. Für die Völker Europas beginnt damit ein grundlegend neues Kapitel in ihrer Geschichte. Sein Ziel ist eine gesamteuropäische Einigung. Es ist ein gewaltiges Ziel. Wir können es erreichen, aber wir können es auch verfehlen. Wir stehen vor der klaren Alternative, Europa zu einigen oder gemäß leidvollen historischen Beispielen wieder in nationalistische Gegensätze zurückzufallen."

Bis zum Ukraine-Konflikt wähnten wir uns in Europa auf dem richtigen Weg. Richard von Weizsäckers Mahnung ist heute, ein Vierteljahrhundert später, aktueller denn je.

Quelle: http://www.zeit.de/politik/2014-12/aufruf-russland-dialog

Die Unterzeichner:
Robert Antretter (geboren 1939, SPD, 1980 – 1998 Mitglied des Bundestages)
Prof. Wilfried Bergmann (geboren 1945, Vize-Präsident der Alma Mater Europaea)
Luitpold Prinz von Bayern (geboren 1951, Königliche Holding und Lizenz KG)
Achim von Borries (geboren 1968, Regisseur und Drehbuchautor)
Klaus Maria Brandauer (geboren 1943, österreichischer Schauspieler, Regisseur)
Dr. Eckhard Cordes (geboren 1950, Vorsitzender Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft)
Prof. Herta Däubler-Gmelin (geboren 1943, SPD, 1998 – 2002 Bundesministerin der Justiz)
Eberhard Diepgen (geboren 1941, CDU, 1984 – 1989 und 1991 – 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin)
Alexander van Dülmen (geboren 1968, Filmproduzent, Vorstand A-Company Filmed Entertainment AG)
Stefan Dürr (geboren 1963, größter Milchproduzent Russlands, Gründer und Geschäftsführer der CEO Ekosem-Agrar GmbH)
Dr. Erhard Eppler (1926 – 2019, SPD, 1968 – 1974 Bundesminister für Entwicklung und Zusammenarbeit)
Prof. Dr. Dr. Heino Falcke (1973 – 1994 Propst)
Prof. Hans-Joachim Frey (geboren 1965, Vorstandsvorsitzender Semper Opernball Dresden)
Anselm Grün (geboren 1945, Benediktinerpater)
Sibylle Havemann (geboren 1955, Tochter von Prof. Robert Havemann)
Dr. Roman Herzog (1934 – 2017, CDU, 1994 – 1999 Bundespräsident)
Christoph Hein (geboren 1944, Schriftsteller)
Dr. Burkhard Hirsch (geboren 1930, FDP, 1994 – 1998 Vizepräsident des Deutschen Bundestages)
Volker Hörner (geboren 1948, Pfarrer, Akademiedirektor i. R.)
Josef Jacobi (Biobauer)
Dr. Sigmund Jähn (1937 – 2019, 1978 erster deutscher Kosmonaut)
Hans-Ulrich Jörges (geboren 1951, Journalist)
Prof. Margot Käßmann (geboren 1958, 2009 – 2010 EKD-Ratsvorsitzende, 1999 – 2010 Landesbischöfin)
Dr. Andrea von Knoop (Ehrenpräsidentin der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer)
Prof. Dr. Gabriele Krone-Schmalz (geboren 1949, 1987 – 1991 Korrespondentin der ARD in Moskau)
Friedrich Küppersbusch (geboren 1961, Journalist)
Vera Gräfin von Lehndorff (geboren 1939, Künstlerin)
Irina Liebmann (geboren 1943, Schriftstellerin)
Lothar de Maizière (geboren 1940, CDU, 1990 letzter DDR-Ministerpräsident)
Stephan Märki (geboren 1955, Schweizer Schauspieler und Regisseur, Direktor des Stadttheaters Bern)
Prof. Klaus Mangold (geboren 1943, Mitglied mehrerer Aufsichtsräte, u. a. der Metro AG)
Reinhard Mey (geboren 1942, Liedermacher) und seine Frau Hella
Ruth Misselwitz (geboren 1952, seit 1981 evangelische Pfarrerin, 1981 Gründerin des Friedenskreises Pankow)
Klaus Prömpers (geboren 1949, Journalist)
Prof. Konrad Raiser (geboren 1938, 1992 – 2003 Generalsekretär des Ökumenischen Weltrates der Kirchen)
Jim Rakete (geboren 1951, Fotograf)
Gerhard Rein (Journalist)
Michael Röskau (Ministerialdirigent a. D.)
Eugen Ruge (geboren 1954, Schriftsteller, 2011 Gewinner des Deutschen Buchpreises)
Otto Schily (geboren 1932, Mitgründer der Partei Die Grünen, seit 1989 SPD, 1998 - 2005 Bundesminister des Inneren)
Friedrich Schorlemmer (geboren 1944, evangelischer Theologe, Bürgerrechtler)
Georg Schramm (geboren 1949, Kabarettist)
Gerhard Schröder (geboren 1944, SPD, 1999 – 2004 Bundeskanzler)
Philipp von Schulthess (geboren 1973, deutsch-schweizerischer Schauspieler)
Ingo Schulze (geboren 1962, Schriftsteller)
Hanna Schygulla (geboren 1943, Schauspielerin, Sängerin)
Dr. Dieter Spöri (geboren 1943, SPD, 1992 – 1996 Wirtschaftsminister in Baden-Württemberg)
Prof. Fulbert Steffensky (geboren 1933, katholischer Theologe)
Dr. Wolf-Dieter Stelzner (geboren 1956, geschäftsführender Gesellschafter im WDS-Institut für Analysen in Kulturen mbH)
Dr. Manfred Stolpe (geboren 1936, SPD, 1990 – 2002 Ministerpräsident in Brandenburg, 2002 – 2005 Bundesminister für Verkehr)
Dr. Ernst-Jörg von Studnitz (geboren 1937, 1969 – 1973 Botschafter in Moskau, später in der Türkei)
Prof. Walther Stützle (geboren 1941, SPD, 1998 – 2002 Staatssekretär der Verteidigung)
Prof. Christian R. Supthut (Vorstandsmitglied a. D.)
Prof. Horst Teltschik (geboren 1940, enger Berater Helmut Kohls im Bundeskanzleramt für Sicherheit und Außenpolitik)
Andres Veiel (geboren 1959, Regisseur)
Dr. Hans-Jochen Vogel (geboren 1926, SPD, 1972 – 1981 Bundesminister)
Dr. Antje Vollmer (geboren 1943, Bündis 90 / Die Grünen, 1994 – 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages)
Bärbel Wartenberg-Potter (geboren 1943, 2001 – 2008 Bischöfin Lübeck)
Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (geboren 1939, Wissenschaftler, SPD, 1998 – 2005 Mitglied des Bundestages)
Wim Wenders (geboren 1945, Regisseur)
Hans-Eckardt Wenzel (geboren 1955, Liedermacher)
Gerhard Wolf (geboren 1928, Schriftsteller, Verleger)




1. Jahrtausend
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21. Jahrhundert