Offener Brief an Bundeskanzler
Scholz
Berlin, am 29. April 2022
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung
des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko
eines 3. Weltkrieges. Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen
und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern.
Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich
zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.
Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts.
Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt,
vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus
ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.
Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische
Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf
zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst
zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall
nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen.
Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen
Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann
in einem unerträglichen Missverhältnis.
Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer
Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch
diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln
liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren
„Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die
Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.
Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten
Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale
Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden
anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.
Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von
Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte
Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in
Anbetracht unserer historischen Verantwortung – und in der Hoffnung auf eine gemeinsame
friedliche Zukunft.
Wir hoffen und zählen auf Sie!
Hochachtungsvoll
DIE ERSTUNTERZEICHNERiNNEN
Andreas Dresen, Filmemacher
Lars Eidinger, Schauspieler
Dr. Svenja Flaßpöhler, Philosophin
Prof. Dr. Elisa Hoven, Strafrechtlerin
Alexander Kluge, Intellektueller
Heinz Mack, Bildhauer
Gisela Marx, Filmproduzentin
Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler
Reinhard Mey, Musiker
Dieter Nuhr, Kabarettist
Gerhard Polt, Kabarettist
Helke Sander, Filmemacherin
HA Schult, Künstler
Alice Schwarzer, Journalistin
Robert Seethaler, Schriftsteller
Edgar Selge, Schauspieler
Antje Vollmer, Theologin und grüne Politikerin
Franziska Walser, Schauspielerin
Martin Walser, Schriftsteller
Prof. Dr. Peter Weibel, Kunst- und Medientheoretiker
Christoph, Karl und Michael Well, Musiker
Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe
Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist
Juli Zeh, Schriftstellerin
Prof. Dr. Siegfried Zielinski, Medientheoretiker