Vermächtnis von Antje
Vollmer
Berlin, am 15. März 2023
Was ich noch zu sagen hätte
Ich stand auf dem Bahnhof meiner Heimatstadt und wartete auf den ICE. Plötzlich näherte sich
auf dem Nebengleis ein riesiger Geleitzug, vollbeladen mit Panzern – mit Mardern, Geparden
oder Leoparden. Ich kann das nicht unterscheiden, aber ich konnte schockartig das Bild lesen.
Der Transport fuhr von West nach Ost. Es war nicht schwer, sich das Gegenbild vorzustellen.
Irgendwo im Osten des Kontinents rollten zur gleichen Zeit Militärtransporte voller russischer
Kampfpanzer von Ost nach West. Sie würden sich nicht zu einer Panzerschlacht im Stile des Ersten
Weltkrieges irgendwo in der Ukraine treffen. Nein, sie würden diesmal erneut den waffenstarrenden
Abgrund zwischen zwei Machtblöcken markieren, an dem die Welt sich vielleicht zum letzten Mal
in einer Konfrontation mit möglicherweise apokalyptischem Ausgang gegenübersteht. Wir befanden
uns also wieder im Kalten Krieg und in einer Spirale der gegenseitigen existentiellen Bedrohung
– ohne Ausweg, ohne Perspektive.
Alles, wogegen ich mein Leben lang politisch gekämpft habe,
war mir in diesem Moment präsent als eine einzige riesige Niederlage.
Es ist üblich geworden zu Beginn jeder Erwähnung der ungeheuren Tragödie um den Ukraine-Krieg
wie eine Schwurformel von der „Zeitenwende“, vom völkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg
Putins bei feststehender Alleinschuld der russischen Seite zu reden und demütig zu bekennen,
wie sehr man sich geirrt habe im Vertrauen auf eine Phase der Entspannung und der Versöhnung
mit Russland nach der großen Wende 1989/90. Diese Schwurformel wird wie ein Ritual eingefordert,
wie ein Kotau, um überhaupt weiter mitreden zu dürfen. Die Feststellung ist ja auch nicht falsch,
sie verdeckt aber häufig genau die Fragen, die es im Zentrum eigentlich zu klären gäbe.
Wo genau begann die Niederlage? Wo begann der Irrtum? Wann und wie entstand aus einer der
glücklichsten Phasen in der Geschichte des eurasischen Kontinents, nach dem nahezu gewaltfreien
Ende des Kalten Krieges, diese erneute tödliche Eskalation von Krieg, Gewalt und Blockkonfrontation?
Wer hatte Interesse daran, dass die damals mögliche friedliche Koexistenz
zwischen Ost und West nicht zustande kam, sondern einem erneuten weltweiten
Antagonismus anheimfiel? Und dann die Frage aller Fragen:
Warum nur fand ausgerechnet Europa, dieser Kontinent mit all seinen historischen Tragödien
und machtpolitischen Irrwegen nicht die Kraft, zum Zentrum einer friedlichen Vision
für den bedrohten Planeten zu werden?
Für die Deutung historischer Ereignisse ist es immer entscheidend, mit welchen Aspekten
man beginnt, eine Geschichte zu erzählen. Ich widerspreche der heute üblichen These,
1989 habe es eine etablierte europäische Friedensordnung gegeben, die dann Schritt um Schritt
einseitig von Seiten Russlands unter dem Diktat des KGB-Agenten Putin zerstört worden sei,
bis es schließlich zum Ausbruch des Ukraine-Krieges kam. Das ist nicht richtig:
1989 ist eine Ordnung zerbrochen, die man korrekter als „Pax Atomica“ bezeichnet hat, ohne dass
eine neue Friedensordnung an ihre Stelle trat. Diese zu schaffen, wäre die Aufgabe der Stunde gewesen.
Aber die visionäre Phantasie Europas und des Westens in der Wendezeit reichte nicht aus,
um ein haltbares Konzept einer europäischen stabilen Friedensordnung auszudenken,
das allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion nunmehr einen Platz verlässlicher Sicherheit
und Zukunftshoffnungen anzubieten vermocht hätte. Zwei Gründe sind dafür entscheidend.
Beide haben mit alten europäischen Irrtümern zu tun: Zum einen wurde der umfassende
wirtschaftliche und politisch Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 einseitig als triumphaler Sieg
des Westens im Systemkonflikt zwischen Ost und West interpretiert, der damit endgültig
die historische Niederlage des Ostens besiegele. Dieser Hang, sich zum Sieger zu erklären,
ist eine alte westliche Hybris und seit jeher Grund für viele Demütigungen, die das ungleiche
Verhältnis zum Osten prägen. Die Unfähigkeit, andere gleichberechtigte Lösungen nach
so umfassenden Umbrüchen zu suchen, hat in dieser fatalen Überheblichkeit ihre Hauptursache.
Vor allem aber wurde so das ungeheure einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung
unter Michael Gorbatschow mit einer verblüffenden Ignoranz als gerngesehenes Geschenk
der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion
auf das Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich.
Das aber war es gerade nicht. Bis heute ist erstaunlich, ja unfassbar, wie wenig Gewicht
dem beigemessen wurde, dass die Auflösung eines sowjetischen Weltimperiums nahezu gewaltfrei
vonstatten ging. Die naive Beschreibung eines dermaßen einmaligen Vorgangs lautete dann etwa so:
Wie ein Kartenhaus, hochverdient und unvermeidlich sei da ein ganzes System in sich
zusammengesackt. Dass gerade diese Gewaltfreiheit das größte Wunder in der Reihe
wundersamer Ereignisse war, wurde kein eigenes Thema. Es wurde vielmehr als Schwäche gedeutet.
Es gibt aber kaum Vorbilder in der Geschichte für einen solchen Vorgang.
Selbst die schwächsten Gewaltregime neigen gerade im Stadium ihres Untergangs gesetzmäßig dazu,
eine Orgie von Gewalt, Zerstörung und Selbstzerstörung anzurichten und alles mit
in ihren eigenen Untergang mitzureißen – wie exemplarisch beim Untergang des NS-Reiches
zu sehen war. Die Sowjetunion des Jahres 1989 unter Gorbatschow, wiewohl politisch und
wirtschaftlich geschwächt, verfügte über das größte Atompotenzial, sie hatte eigene Truppen
auf dem gesamten Gebiet ihrer Herrschaft stationiert. Es wäre ein leichtes gewesen,
das alles zu mobilisieren. Das wurde ja auch von vielen Vertretern des alten Regimes
vehement gefordert. Mit dem historischen Abstand wird noch viel deutlicher als heute
klar werden, welche staatsmännische Leistung es war, lieber „Helden des Rückzugs“
(Enzensberger) zu sein, als in einem letzten Aufbäumen als blutiger Rächer und Schlächter
von der Geschichte abzutreten. Die Wahl, die Michael Gorbatschow fast allein getroffen hat,
hat ihm nicht zuletzt die Enttäuschung vieler seiner Bürger eingebracht.
Es hieß, er habe nachträglich den Großen Vaterländischen Krieg verloren.
Wie ein stummes Mahnmal gigantischer europäischer Undankbarkeit steht dafür der
erschreckend private Charakter der Trauerfeier um den wohl größten Staatsmann unserer Zeit
auf dem Moskauer Prominenten-Friedhof.
Es wäre ein Gebot der Stunde gewesen, dass die Granden Europas Michail Gorbatschow,
der längst im eigenen Land isoliert war, ihre Hochachtung und ihren Respekt erwiesen
hätten, indem sie sich vor ihm verneigten.
Zumindest aus Deutschland, das ihm fast allein das Glück der Wiedervereinigung verdankte,
hätte ein Bundespräsident Steinmeier an diesem Grab stehen müssen. Die Einsamkeit um diesen
Toten war unerträglich. So nutzte ausgerechnet Viktor Orban die Chance, diesen Boykott einer
angemessenen Würdigung zu unterlaufen. Es bleibt ein beschämendes Zeichen, ein Menetekel
von historischer Ignoranz. Wenige Tage später drängelten sich die Repräsentanten
des europäischen Zeitgeistes dann alle mediengerecht am Grab der englischen Queen
und des deutschen Papstes Benedict XVI. Bis heute ist mir schwer verständlich, warum es nicht
zumindest eine Demonstration der Dankbarkeit bei den eigentlichen Profiteuren dieses
Gewaltverzichtes, bei den Bewegungen der friedliche Bürgerproteste gegeben hat.
Gerade sie hatten ja hautnah die Ängste erfahren, was alles hätte passieren können,
wenn es 1989 in Ostberlin eine Reaktion wie bei den Studenten-Protesten in Peking gegeben hätte.
Und tatsächlich ist ein Teil der heutigen Zurückhaltung im Osten Deutschlands gegenüber
der einseitigen Anprangerung Russlands wohl dieser anhaltenden Dankbarkeit zuzuschreiben.
Mediale Wortführer und Interpreten aber wurden andere – und sie wurden immer dreister.
Immer kleiner wurde in ihren Interpretationen der Anteil am Verdienst der Gewaltfreiheit
auf sowjetischer Seite, immer wirkmächtiger wurde die Legende von der eigenen großartigen
Widerstandsleistung.
Alle kundigen Zeitzeugen wissen genau, dass der Widerstand und der Heldenmut
von Joachim Gauck, Marianne Birthler, Katrin Göring-Eckardt durchaus maßvoll war
und den Grad überlebenstüchtiger Anpassung nicht wesentlich überschritt.
Manche Selbstbeschreibungen lesen sich allerdings heute wie Hochstapelei.
Sie verschweigen und verkennen, was andere zum großen Wandel beitrugen
und dass mancher Reformer im System keineswegs weniger Einsatz und Mut gewagt hat.
Das mag menschlich, allzu menschlich sein und also nicht weiter erwähnenswert.
Fatal allerdings ist, dass dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten
Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments zählt.
Er knüpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die vom berechtigten
Antistalinismus über den verständlichen Antikommunismus bis hin zur irrationalen Slawenphobie
viele Varianten von westlichen Feindbildern bis heute prägt. Die wichtigsten Fragen,
die heute zwischen Ost und West strittig verhandelt werden müssten, lauten:
Was bedeutet es eigentlich, eine europäische Nation zu sein? Was unterscheidet uns von anderen?
Welche Fähigkeiten muss eine Nation erwerben, um dazu zu gehören?
Was sind die Lehren unserer Geschichte? Welche Ideale prägen uns?
Welche Irrtümer und Verbrechen? Sie alle werden in aller Deutlichkeit wachgerufen
am Beispiel der Ukraine und ihres Abwehrkampfes gegen die russische Aggression.
In unseren Medien verkörpert die Ukraine das Ideal und Vorbild einer freiheitsliebenden
westlichen Demokratie heroischen Zuschnitts. Die Ukraine, so heißt es, kämpfe nicht nur
für ihre eigene Nation, sondern zugleich für die historische universale Mission des Westens.
Wer sich machtpolitisch behauptet, wer seine Existenz mit blutigen Opfern und Waffen verteidigt,
gilt als Bollwerk für die europäischen Ideale der Freiheit, koste es, was es wolle.
Wer aber den Weg des Konsenses, der Kooperation, der Verständigung und der Versöhnung sucht,
gilt als schwach und deswegen als irrelevant, ja als verächtlich. Von
daher sind Gorbatschow und Selenskyj die eigentlichen Antitypen
in der Frage, was es heute heißt, Europäer zu sein und die europäischen Tugenden zu verkörpern.
Neben diesem Hang zum Heroischen und zur Selbsterhöhung liegt hier die Wurzel, die ich für den
Grundirrtum einer europäischen Identität halte: Das ist das scheinbar unausrottbare Bedürfnis
nach nationalem Chauvinismus. Jahrhundertelang haben nationale Exzesse die Geschichte unseres
Kontinents geprägt.
Keine Nation war frei davon: nicht die Franzosen, schon gar nicht die Briten,
nicht die Spanier, nicht die Polen, nicht die Ukrainer, nicht die Balten,
nicht die Schweden, nicht die Russen, noch nicht einmal die Tschechen –
und schon gar nicht die Deutschen.
Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen imperialen Mächte
gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist Selbstbetrug
und einer der folgenschwersten europäischen Irrtümer. Er verführt auch heute noch viele junge
Demokratien dazu, sich nur als Opfer fremder Mächte zu sehen und die eigene Gewaltgeschichte
und Gewaltphantasien für berechtigt zu halten. Was Europa immer wieder zu lernen hatte und
historisch meist verfehlte, ist die Kunst der Selbstbegrenzung, der friedlichen Nachbarschaft,
der Fairness, der Wahrung gegenseitiger Interessen und des Respektes voreinander.
Was Europa endlich verlernen muss, ist dagegen das ständige Verteilen von Ketzerhüten,
das ausmachen von Achsen des Bösen und von immer neuen Schurkenstaaten. Ach Europa!
Jedes Mal, wenn wieder eine der großen Krisen und Kriege des Kontinents überstanden war –
nach dem 30-jährigen Krieg, nach dem Feldzug Napoleons gegen Russland, nach zwei Weltkriegen,
nach dem Kalten Krieg – konnte man hoffen, der machtpolitische Irrweg sei nun durch bittere
Erfahrung widerlegt und gebe einem überlebenstüchtigeren Weltverständnis endlich Raum.
Und jedes Mal fielen wie durch einen Fluch die Völker Europas wieder der Versuchung anheim,
den Weg der Dominanz und der Konfrontation zu gehen. Umso wertvoller ist aber das große
Gegenbeispiel: Gorbatschows Hoffnung, dass auch für alle ehemaligen Staaten der SU eine neue
Sicherheitsordnung gefunden würde, die den unterschiedlichen Sicherheitsbedürfnissen gerecht
werden würde, war der Charta von Paris durchaus angedacht als Raum gemeinsamer wirtschaftlicher
und politischer Kooperation zwischen dem alten Westeuropa und den neuen östlichen Staaten.
Das war damals auch die Vision von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Aber es gab keinen
Plan, kein Konzept, die Vision war einfach zu undeutlich. Wie schnell sich wieder das Gefühl
des leichten Triumphes einstellte, lässt sich an einem traurigen Beispiel gut ablesen: Am
Umgang mit Jugoslawien.
Jugoslawien gehörte zu den blockfreien Staaten, es hatte sich rechtzeitig vom Stalinismus gelöst.
Es hatte die jahrhundertealten nationalen Rivalitäten aus der Zeit der Donau-Monarchie
einigermaßen befriedet. Es wäre nichts leichter gewesen, als diesem Jugoslawien als Ganzem
1989 eine Öffnung nach Europa und zur EU anzubieten. Es hätte Zeit gebraucht, aber es wäre
möglich gewesen. Man hätte nur darauf verzichten müssen, dem nationalen Drängen der Slowenen
und Kroaten zu schnell nachzugeben und das neue Feindbild der allein aggressiven Serben
zu pflegen. Solche Weisheit allerdings fehlte völlig im Überbietungswettstreit
um die Anerkennung neuer Nationalstaaten auf dem Balkan. Der bosnische Bürgerkrieg, Srebrenica,
die Zerstörung Sarajewos, Hunderttausende Tote und traumatisierte Menschen,
der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO gegen Belgrad,
die völkerrechtswidrige Anerkennung des Kosovo als selbstständiger Staat,
das vielfältige Aufbäumen von neuen nationalen Chauvinismen wären vermeidbar gewesen.
Was bedeutet das alles für die unmittelbare Gegenwart und für die deutsche Politik
im Jahre 2023? Die Koordinaten haben sich entscheidend verschoben. Bis zum Ende der Regierung
Schröder konnte man davon ausgehen, dass gerade Deutschland aus der Zeit der Entspannungspolitik
einen privilegierten Zugang, zumindest einen gewissen Spielraum zum Konfliktausgleich zwischen
den großen geopolitischen Spannungsherden innehatte. Diese Zeit ist endgültig vorbei.
Ungefähr im Jahre 2008 begann Putin dem zu misstrauen und seinen Machtbereich gegen den Westen
auszurichten. Deutschland begann sich als europäischer Riegenführer im neuen Konzept der NATO
zu definieren. Im Rahmen der Reaktionen auf den Ukrainekrieg rückte es endgültig ins Zentrum
der antirussischen Gegenstrategien. Das begrüßenswerte, aber medial vielgescholtene Zögern
des Kanzlers Olaf Scholz war zu wenig von einer haltbaten politischen Alternative unterfüttert
und geriet so ins Rutschen. Wirtschaftlich und politisch zahlen wir dafür einen hohen Preis.
Der deutsche Wirtschaftsminister bemüht sich, die alten Abhängigkeiten von Russland
und China durch neue Abhängigkeiten zu Staaten zu ersetzen, die keineswegs als
Musterdemokratien durchgehen können. Die Außenministerin
ist die schrillste Trompete
der neuen antagonistischen NATO-Strategie. Ihre Begründungen
verblüffen durch argumentative Schlichtheit.
Dabei wachsen die Rüstungskosten und der Einfluss der Rüstungs- und Energiekonzerne
ins Unermessliche. Der Krieg verschlingt sinnlos die Milliarden, die für die Rettung
des Planeten und die Armut des globalen Südens dringend gebraucht würden.
Das aufsteigende China aber wird propagandistisch als neuer geopolitischer Gegner ausgemacht
und in der Taiwan-Frage ständig provoziert.
Das sind alles keine guten Auspizien. Und dennoch: Wenn mich nicht alles täuscht,
steht Europa kurz vor der Phase einer großen Ernüchterung, die das eigene Selbstbild
tief erschüttern wird. Für mich aber ist das ein Grund zur Hoffnung.
Der so selbstgewisse Westen muss einfach lernen, dass die übrige Welt unser Selbstbild
nicht teilt und uns nicht beistehen wird.
Die eilig ausgesandten Sendboten einer neuen anti-chinesischen Allianz im anstehenden Kreuzzug
gegen das Reich der Mitte scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein. Wie konnten wir nur
annehmen, dass das große China und die Hochkulturen Asiens die Zeit der willkürlichen
Freihandels- und Opium-Kriege je vergessen würden? Wie sollte der leidgeprüfte afrikanische
Kontinent die zwölf Millionen Sklaven und die Ausbeutung all seiner Bodenschätze je verzeihen?
Warum sollten die alten Kulturen Lateinamerikas den spanischen und portugiesische Konquistadoren
ihre Willkürherrschaft vergeben? Warum sollten die indigenen Völker weltweit das Unrecht
illegaler Siedlungen und Landraubs einfach beiseiteschieben in ihrem historischen Gedächtnis?
Meine Hoffnung besteht darin, dass sich aus all dem eine neue Blockfreienbewegung ergeben wird,
die nach der Zeit der vielen Völkerrechtsbrüche wieder am alleinigen Recht der UNO arbeiten wird,
dem Frieden und der Überlebensfähigkeit des ganzen Planeten zu dienen.
Meine ganz persönliche Niederlage wird mich die letzten Tage begleiten.
Gerade die Grünen, meine Partei, hatte einmal alle Schlüssel in der Hand
zu einer wirklich neuen Ordnung einer gerechteren Welt.
Sie war durch glückliche Umstände dieser Botschaft viel näher als alle anderen Parteien.
Wir hatten einen echten Schatz zu hüten: Wir waren nicht eingebunden in die machtpolitische
Blocklogik des Kalten Krieges. Wir waren per se Dissidenten. Wir waren gleichermaßen
gegen die Aufrüstung in Ost wie im Westen, wir ahnten die Gefährdung des Planeten
durch ungebremstes Wirtschaftswachstum und Konsumismus. Wer die Welt retten will,
musste ein festes Bündnis zwischen Friedens- und Umweltbewegung anstreben, das war eine
klare historische Notwendigkeit, die wir lebten. Wir hatten dieses Zukunftsbündnis greifbar
in den Händen.
Was hat die heutigen Grünen verführt, all das aufzugeben für das bloße Ziel, mitzuspielen
beim großen geopolitischen Machtpoker und dabei ihre wertvollsten eigenen Wurzeln
verächtlich zu machen als lautstarke Antipazifisten?
Ich erinnere mich an meine großen Vorbilder: Die härtesten Bewährungsproben hatten die großen
Repräsentanten gewaltfreier Strategien immer in den eigenen Reihen auszufechten. Gandhi hat
mit zwei Hungerstreiks versucht, den Rückfall der Hindus und Moslems in die nationalen
Chauvinismen zu brechen, Nelson Mandela hatte äußerste Mühe, die Gewaltbereitschaft
seiner jungen Mitstreiter zu brechen, Martin Luther King musste sich von den Black Panther
als zahnloser Onkel Tom verhöhnen lassen. Ihnen wurde nichts geschenkt.
Und das gilt auch heute für uns letzte Pazifisten. Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg
und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten
großer Krisen und existentieller Ängste. Heute aber gilt:
Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen
wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen.
Wir haben nur diese eine Zukunftsoption. Gekürzt: Der Kalte Krieg mit seinen mühsam
gebändigten Arsenalen gegenseitiger atomarer Hochrüstung zweier Supermächte war
zwar eine Ordnung, die die Welt in einem Patt gegenseitiger Bedrohung gefangen hielt,
eine Friedensordnung im eigentlichen Wortsinn war es nicht.